Ich freue mich über den leichten Zugang zu Plato und Aristoteles, wie es vor über 2000 Jahren schon dieselben Fragen gab wie heute.
Ich lese mit Interesse die Autoren der Aufklärungszeit, mit denen klar wird, wie unser heutiges Denken schrittweise entstand.
Aber wenn ich Rawls lese, werde ich oft wütend.
Ich habe mich dazu durchgerungen, fundamentale Kritik am System in dem ich groß geworden bin zu akzeptieren. Mauer und Gulag , Kulturrevolution und Nordkorea, da scheint etwas nicht reformierbar schief gelaufen zu sein.
Jetzt lebe ich im Kapitalismus, einem System, das Auschwitz und Atombombe hervorgebracht hat, das auf einem endlichen Planeten nur durch Wachstum überleben kann, in dem aller 3 Sekunden ein Kind verhungert …
Und dann redet Rawls von der Gesellschaft als einem fairen System der sozialen Kooperation. Mir scheint das ähnlich weltfremd wie die Entwürfe der utopischen Sozialisten.
Vor dem Hintergrund dieses Lamentos treiben mich mehrere Fragen um:
- Warum behandeln wir ein Werk der politischen Philosophie? Geht es im Ethikunterricht nicht gerade um die von Rawls außen vor gelassenen Globaltheorien.
- Die bisher behandelten Autoren, egal ob Aristoteles oder Kant, operieren vom Stand der jeweils aktuellen Naturwissenschaften und loten mit Mitteln der Philosophie den ungeklärten „Rest“ aus. Bei Rawls kann ich das nicht erkennen. Ich sehe ihn mit einem unspezifischen Menschenbild operieren, als hätte es in den 60ern noch keine Soziologie, keinen Freud, keine Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter gegeben. Ist dieser Eindruck falsch?
- Es scheint plausibel über Gesellschaft entlang des Begriffspaares Freiheit/Gleichheit nachzudenken. Aber warum ist das so. Kann der Frage, wie Gesellschaft sein soll, auch anders nachgegangen werden?
Na wenigstens bin ich mit meiner Kritik nicht allein:
„Mit dem Auftauchen des von John Rawls inspirierten Neo-Kantianismus ist in dem alten und bereits ein wenig ermüdenden Methodenstreit zwischen den Platonikern und Aristotelikern eine neue Runde eingeläutet worden. Schnell stellten sich nach dem Erscheinen der „Theory of Justice“ die realistischen Kritikreflexe ein. Für seine Gegner war die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie eine, wie John Gray in einer Rezension des „Times Literary Supplement“ schrieb, Philosophie der „Entleerung des politischen Lebens“, die angesichts der drückenden politischen Probleme der Gegenwart ins normative Arkadien des Rechts- und Moraluniversalismus flieht und für die dilemmatische Welt des Nicht-Idealen (…) untauglich ist.“
Und im Café der toten Philosophen mit Wittgenstein, Spinoza, Kant und Heidegger war Rawls ein Running Gag, weil das gar kein Philosoph ist.