Ein Fußtier auf dem Fahrrad

In Platos Sophistes wird die Dihairesis des Anglers betrieben. Unter anderem werden die Tiere in Landtiere und Wassertiere eingeteilt. Die Landtiere laufen und brauchen einen festen Untergrund. Die Wassertiere schwimmen ohne Untergrund, so wie die Vögel in der Luft schwimmen.

Gestern rollte ich auf meinem Fahrrad auf einem glatten Wege durch einen frühlingsgrünen Laubwald. Eine Tätigkeit, die mich schon mehrfach in Verzückung versetzt hat. Auf dem zweidimensionalen, festen Weg war ich eindeutig das Landtier. Der Weg gab mir Halt, Sicherheit. Die Schneise, geschlagen durch den Wald, versiegelt mit Asphalt, ermöglichte es mir überhaupt erst, mich auf meinem Kunstprodukt Fahrrad fortzubewegen. Aber mit meinen Augen schwamm ich zwischen den Ästen und Blättern. Ganz Wassertier.

Ich war das Gegenteil von Sillys fliegendem Fisch, ein Teil von mir verließ das eingeschränkte Landtierdasein. Und überhaupt: so ein Affe, der gewandt sich durch die Wipfel schwingt – läuft oder schwimmt der.

Armseliges tertium non datur. Kann schon sein, dass es möglich ist, auf dem Fundament von Logik und Satz vom ausgeschlossenem Dritten stabile Türme aus lauter „S-ist-P“-Propositionen zu bauen. Aber dieser Apparat scheint mir unzureichend, mich fühlend durch die Welt zu bewegen.

Diotima

Ich zweifele ja immer mehr an, dass das Gute 100%ig rational geklärt werden kann. Die von uns behandelten Denker bestreiten dies nicht. Aber mir bleibt immer so ein fader Beigeschmack, weil sich die rationalistischen Heilslehren alle gleich anhören: Du kannst das Gute/Richtige erkennen, du bist frei es zu tun und wenn du es nicht machst, bist du eine willensschwache Wurst.

All der ganze positive Kram um Spiegelneuronen, Bindungstypen und Empathie spielt keine Rolle. Nun könnte ich ja sagen: naja, das sind alles Forschungsergebnisse, die allerhöchstens 50 Jahre alt sind und unsere alten Herren Philosophen aus dem Studium konnten das noch nicht wissen. Aber über den Umweg über Eves Welt ist mir Diotima über den Weg gelaufen und die Dame stammt aus einem Platodialog und hat Sokrates gelehrt:

Der Mensch verfügt über Zeugungskraft oder Fruchtbarkeit sowohl im körperlichen als auch im seelischen Sinne. Diese Fähigkeit des Hervorbringens ist ebenso wie die Schönheit von göttlicher Art, daher kann sie sich dort entfalten, wo sie auf Schönes trifft; mit Hässlichem harmoniert sie nicht, daher wird sie von ihm nicht aktiviert. Aus diesem Grund richtet sich das erotische Begehren auf das Schöne. Dabei wird aber das Schöne nicht als solches erstrebt. Der erotische Drang ist nicht Liebe zum Schönen, sondern ein Drang zum Zeugen und Hervorbringen im Schönen. Das Sterbliche strebt nämlich nach Unsterblichkeit. Mittels der Fortpflanzung können Sterbliche etwas von sich hinterlassen und so eine Dauerhaftigkeit erreichen, mit der sie gewissermaßen am Unsterblichen teilhaben. Analog dazu ist auch das Hervorbringen dauerhafter geistiger Werte, etwa in der Dichtung oder der Gesetzgebung, eine Art von Zeugung, die „unsterblichen“ Ruhm verschafft.

M.a.W. Wir sind darauf konditioniert das Gute und Schöne zu wollen – und nicht zu sollen.

So, und jetzt lese ich noch das Original.

Auf einem Auge blind

Sokrates, Plato und Aristoteles philosophieren trefflich über das Gute – in einer Gesellschaft, in der Frauen, Kinder und Sklaven keine richtigen Menschen sind.

Die Aufklärer klären auf, finden Toleranz toll und feiern die Vernunft, verhelfen dem Kapital zur Freiheit. Und sie kommen gut mit dem Sklavenhandel im 18. Jahrhundert klar, zumindest ist das nicht ihre wesentliche Baustelle. Für Voltaire und Kant sind Neger keine vollwertigen Menschen.

Und genau in dieser Tradition dönsen wir weiter über einen ethischen Minimalkonsens, während FRONTEX uns das hungrige Negerpack vom Hals hält.

Wir reflektieren genauestens das Einzelne, unseren Bauchnabel, das Gewissen, die Vernunft und schweigen über das Ganze.